Größere Gegensätze sind eigentlich kaum vorstellbar. Hier der Jazz, der sich als rauer Kumpane durch die Großstädte des 20. Jahrhunderts schlug. Da Emily Dickinson, die stille Lyrikerin aus einer calvinistischen Familie, die ihr gesamtes Leben zurückgezogen im ländlichen Amherst/Massachusetts verbrachte. Als Dickinson 1886 im Alter von 56 Jahren starb, war der Jazz noch nicht geboren. Sondern nur eine dunkle Ahnung, die über den schwülen Sümpfen des Mississippi-Deltas waberte.
Passt das zueinander? Gewiss. Es braucht für diese Zusammenführung allerdings ein seltenes Talent. Große Musikalität. Ein Gespür für Worte, Bilder und Stimmungen. Und ein Sinn für Melodien, die im Ohr hängen bleiben und doch das Herz rühren, auf diese spröde, geheimnisvolle Art, die Dickinson zueigen ist. Julia Hülsmann, die von der WELT AM SONNTAG als »die derzeit bemerkenswerteste Pianistin der Jazz-Szene« bezeichnet wird, verfügt über all diese Begabungen im Übermaß.
Man weiß das, seitdem im Jahr 2003 ihr ACT-Debüt »Scattering Poems« erschien. Der »sanfte Geniestreich« (ROLLING STONE), der Vertonungen von Gedichten des amerikanischen Avantgarde-Lyrikers E.E. Cummings barg, wurde mit dem deutschen Jazz Award ausgezeichnet. Auch mit dem Folge-Album, der Randy-Newman-Hommage »Come Closer« (ACT 9702-2) gelang Hülsmann eine wunderbar schlüssige Fusion aus Text, Gegenwartsjazz und Pop. So lobte die WAZ, dass es der in Berlin lebenden Pianistin gelungen sei, »einem großen Songwriter souverän zu huldigen und doch ein erfrischend autarkes Klangabenteuer zu entwickeln. So spannend und intensiv war Randy Newman selbst auf eigenen Platten bislang kaum einmal zu hören.« Kein Wunder, dass sich Julia Hülsmann mit Newman so wohl fühlte. Sie ist nämlich ebenfalls eine hervorragende Songwriterin. Und es ist nicht das geringste Verdienst von »Good Morning Midnight«, dass Emily Dickinson plötzlich daherkommt wie eine Zeitgenossin des 21. Jahrhunderts. Hülsmann geht respektvoll und behutsam mit ihren formal strengen Gedichten um. Und findet doch genügend harmonische und rhythmische Reibungsflächen. Das intensive Miteinander mit ihren Trio-Weggefährten Marc Muellbauer (Bass) und Heinrich Köbberling (Schlagzeug) ist eine von Hülsmanns wichtigsten musikalischen Konstanten.
Neu hinzugekommen ist nun der Sänger Roger Cicero, Sohn des viel zu früh verstorbenen Pianisten Eugen Cicero. Es ist eine bewusste Besetzung gegen den Strich. Waren es bei den vergangenen beiden Aufnahmen die Vokalistinnen Rebekka Bakken und Anna Lauvergnac, mit denen Hülsmann erfolgreich zusammenarbeitete, so interpretiert nun ausgerechnet ein Mann die Gedichtzeilen einer Frau.
Cicero, der sich mit dem »Soulounge«-Kollektiv in letzter Zeit einen Namen bei einem größeren Publikum machen konnte, ist ein Virtuose in der Kurt-Elling-Tradition. Als er zum ersten Mal Hülsmanns Dickinson-Bearbeitungen hörte, war ihm klar: »Das ist ausgesprochen ungewöhnlich. So etwas habe ich noch nie gesungen«. All das schwingt nun in den Stimmbändern mit: Neugier und Zweifel, Überschwang und Introspektion, Instinkt und intellektuelle Zähmung. Es ist die adäquate Umsetzung der Dickinsonschen Lyrik, die die Natur und das Licht feiert – und doch dem Dunklen und dem Nachsinnen über die Vergänglichkeit so viel Raum gewährt.
Zehn Gedichte aus dem umfangreichen Nachlass Dickinsons hat Julia Hülsmann für »Good Morning Midnight« ausgewählt. Hinzu kommt Nick Drakes enigmatischer »Riverman«, die einzige Fremdkomposition auf der CD. Sie fügt sich kongenial ins Gesamtbild ein. Denn es ist so: die vermeintlichen Gegensätze zwischen Kunstlied und Pop, zwischen der amerikanischen Lyrik des 19. Jahrhunderts und dem europäischen Jazz der Jetztzeit werden auf dieser Platte in glücklich machende Gemeinsamkeiten verwandelt. »Good Morning Midnight«. In der tiefsten Nacht geht die Sonne auf.
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