Jazz Café

THÄRICHENS TENTETT

Die interessanteste Jazz-Großformation unseres Landes
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Sonntag
24. Okt 2010
17:00 Uhr
Kurzer Blick zurück, Deutschland im Jahr 2001: Der Pianist Nicolai Thärichen veröffentlicht mit »Lady Moon« die erste CD seines Tentetts. Ein irrer Wurf: Er nimmt sich Gedichte vor, ganz unjazzgemäße, von Lord Byron, Thomas Hardy und Ronald D. Laing. Versammelt einige der besten Jazzer Berlins zu einem Klangkörper, den er biegt und knetet, bis aus den Gedichten tanzende Skulpturen werden, die sich aufbäumen können zu einer donnernden Big Band, um sich im nächsten Moment filigran zu verschlanken, als hätte man es mit kammermusikalischen Giacomettis zu tun. Und er toppt das ganze mit der Stimme Michael Schiefels, der androgyn, sinnlich, überdreht, virtuos, kurz: völlig durchgeknallt ist, jedenfalls wenn er auf der Bühne steht und sich in eine »Scat-Rampensau« [Josef Engels in »Rondo«] verwandelt. Thärichen, damals 31, ist geglückt, was Künstler meist nur einmal im Leben schaffen: Er hat eine tragende Idee gefunden, einen Masterplan für eine ganze Künstler-Laufbahn. Diesen gestaltet er in den folgenden Jahren mit den Alben »The Thin Edge« [2003] und »Grateful« [2005] konsequent aus. Sein Tentett bleibt ihm so gut wie ohne personelle Veränderungen erhalten. Auch seine Lieblingsdichter bleiben ihm treu, v. a. Ronald D. Laing, Mitbegründer der Anti-Psychiatriebewegung und gnadenloser Sarkast; andere, wie Dorothy Parker, kommen hinzu. Und das Publikum? Wird von Jahr zu Jahr, von CD zu CD, enthusiastischer. Die SZ preist THÄRICHENS TENTETT als »das kompositorisch Gelungenste, arrangementtechnisch Ausgefeilteste und in der Präsentation Humorvollste, was derzeit in Deutschland von einer größeren Besetzung kommt«. Und über Michael Schiefel urteilt die FAZ: »Einen solchen Jazzsänger hat Deutschland vielleicht noch nie gehabt«. 
Nun also, acht Jahre nach dem Debüt, Album Nummer vier. Und was liest man im Titel? »Farewell Songs«! Thärichen nimmt Abschied? Das klingt so melancholisch, man fragt sich, wie das zum Temperament dieser Band passen soll. Der mittlerweile 39-Jährige wird doch hoffentlich nicht einer Midlife-Crisis anheimgefallen sein? Kein Grund zur Sorge: Nicolai Thärichen und seinem Tentett geht es bestens. Musiker wie Stücke sprühen vor Ideen. Das AC/DC-Cover »Up to my neck in you« macht den Anfang, virtuos arrangiert, volle Kraft voraus. Und doch: Um Abschied geht es in beinahe jedem Stück. »Farewell Songs« ist Thärichens persönlichste Platte bisher. Die dreiteilige »Farewell Suite« z. B. widmet er seinem kürzlich verstorbenen Vater, dem Komponisten, Autor und langjährigen Solo-Pauker der Berliner Philharmoniker, Werner Thärichen [1921-2008]. Abschied à la Thärichen hat allerdings nicht zwangsläufig mit Trauer zu tun. In Dorothy Parkers Gedicht »On being a woman« wird selbstironisch über die allzumenschliche Entscheidungsschwäche hergezogen: Bin ich in Rom, will ich nach Hause, bin ich zuhause, will ich nach Rom. Eine solche Steilvorlage lässt sich Michael Schiefel nicht nehmen: Er legt los mit einer Scat-Improvisation, aber nicht getreu den Konventionen des Jazz, sondern in der Stimme eines überkandidelten Opernhelden. Sein Vibrato trieft vor Camp-Pathos, zwischendrin wähnt man sich in der Bohemian Rhapsody, und als ob das alles nicht schräg genug wäre, beginnen die Bandmitglieder auch noch, den Rhythmus als Human Beat-Box zu sprechen. Nicht wie es Hip-Hopper tun, bumm-tscha-bumm, sondern mit extrem merkwürdigen Lauten. Hört man richtig? Singen die da wirklich »Bumm da-ga-disch uh-uh-dicke Backe«? Exaltiert und skurril: Die Abschiede des Thärichens Tentetts machen richtig Spaß. Die »Farewell Songs« klingen so abgeklärt wie tiefgründig, sind todernst und total abgedreht. Sie handeln vom Verlieren und vom Finden, und davon, dass man das eine selten ohne das andere bekommt.

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